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Jazz ist eine Haltung – Andreas Schaerer und die Offenheit der Musik

Sie haben schon in Kindesjahren oft stundenlang mit Ihrer Stimme gespielt. Spielte auch Musik eine große Rolle in Ihrer Kindheit?

Ja. Ich habe durch die Plattensammlung meiner Eltern sehr viel Musik gehört, vor allem 60er-, 70er-Jahre: Beatles, Pink Floyd, Led Zeppelin, Rolling Stones, Bob Dylan, diese Sachen, aber nichts Experimentelles, keine Klassik, kein Jazz, viel Rock.

Wie sind Sie darauf gekommen, dass Sie mit Stimmexperimenten auch Musik machen können? Gab es dafür ein Schlüsselerlebnis?

Das war ein fließender Prozess. Man könnte die Stimme mit einem Sampler vergleichen. Damit lassen sich verschiedene Klänge erzeugen und reproduzieren. So entstand eine Sammlung von Klängen, Geräuschen und Variationen davon. Ich habe dann angefangen, die unzusammenhängenden Klänge miteinander zu verknüpfen und daraus gewissermaßen ein Instrument zu bauen, die Stimme. Kurz nach 20 habe ich entdeckt, dass Sängerinnen und Sänger im Jazz experimentieren, ohne Text einzusetzen. Da war klar, dass das musikalisch am ehesten mein Zuhause wäre, weil ich da alles ausleben konnte.

Sprachwissenschaftler sagen, dass man mit 18 Jahren sprachlich konservativ wird. Wortschatz und pragmatisches Verständnis entwickeln sich zwar immer noch weiter. Doch was man sich bis 18 angeeignet hat, dient für das weitere Leben als Elle. Sind Ihre Kindheit und Jugend Bezugsräume, auf die Sie immer wieder bewusst zurückkommen? Oder möchten Sie damit heute nicht mehr viel zu tun haben?

Als Kind und Jugendlicher eignet man sich Dinge, egal in welchem Bereich, ob durch Musik hören oder Instrumente spielen, auf jeden Fall anders, intuitiver an, als das später passiert. Wenn man etwas mit 30 oder 40 neu entdeckt, ist es wohl kein Problem, neugierig zu bleiben, aber man bekommt es nicht mehr so leicht auf eine intuitive Ebene herunter. Also finden Einflüsse von damals sicher Eingang in meine Musik, aber nicht intellektuell-analytisch, sondern eher unbewusst, jedoch mit einem tief verwurzelten musikalischen Verständnis. Ich bin überzeugt, dass alles verbunden ist: von frühesten Erinnerungen als ganz kleiner Junge bis heute.

Gibt das Ihrer Musik vielleicht auch diese spielerische Leichtigkeit und das Talent, alles nicht zu ernst zu nehmen, einschließlich sich selbst?

Ich finde schon, dass man sich selbst ernst nehmen muss. Sonst entwickelt man sich nicht. Aber speziell im Jazz, der zu jeder Zeit in jede Richtung losgehen kann, kann es ganz hilfreich sein, die Musik nicht zu ernst zu nehmen, um flexibel und kreativ zu bleiben. Würde ich eine abgeschlossene Komposition zum Beispiel zu ernst nehmen, könnte ich den Augenblick, die Gegenwart gar nicht mehr in die Musik einfließen lassen. Daher muss ich Dinge eigentlich immer wieder in Fragen stellen. Dazu gibt es viele Möglichkeiten. Humor ist ein dankbares Mittel.

Lassen sich Ihre ungewöhnlichen Gesangtechniken mit Begriffen beschreiben?

Ich brauche selber für mich keine Begriffe. Begriffe brauche ich erst, wenn ich jemandem erklären muss, was ich mache. Das ist auch immer wieder die Frage in Interviews: Wie beschreibst du deine Musik? Was ist das für ein Stil? Da braucht es eine sprachliche Abstraktion. Manche sagen, es ist Stimmakrobatik. Ich mag diesen Begriff nicht so sehr, weil es etwas Zirkushaftes hat. Ich meine, da läuft vieles zusammen: von traditionellem Gesang, über das ganze Register von Bruststimme bis Kopfstimme und Falsett, bis zu Mundperkussion. Ich nutze verschiedene Resonanzräume, sodass ich nicht nur durch den Mund, sondern auch durch die Nase singen kann und dadurch gewisse Freiheiten gewinne. Man muss viele Klänge auch nur mit der Zunge erzeugen, ohne dass die Stimmbänder involviert sind. Das erlaubt mir, mit den Stimmbändern einen Teil zu spielen, während die Zunge einen anderen Teil spielt. So lassen sich auch zweistimmige Sachen umsetzen, was ich momentan gerne verfolge.

Als Dozent an der Hochschule muss ich oft in Worte fassen, was mit der Stimme passiert. Da arbeite ich relativ trocken anatomisch, indem wir uns anschauen, wo welcher Klang hergestellt wird und wie er verändert wird. Da geht es zum Beispiel darum, wie man Resonanzräume erschließen kann und wie man sie vergrößern oder verkleinern kann.

Als Mitglied einer Band haben Sie ein Repertoire und feste Stücke. Wie sehr ähneln sich die Stücke von Abend zu Abend? Wie viel ist vorgegeben und wie viel entsteht aus dem Augenblick heraus als Improvisation?

Es kommt auf das Stück und das Ensemble an. Bei „Hildegard lernt fliegen“ sind die Stück sehr komplex, davon ist mindestens 50 Prozent Komposition. Die kann dann mal schneller, mal langsamer gespielt werden, lauter, leiser, mal euphorisch, mal schön melancholisch. Man kann sie färben, aber nicht eine komplett eine andere Geschichte erzählen. Die solistischen Teile sind nicht festgelegt, die können improvisiert werden. Dann gibt es Besetzungen, zum Beispiel mit Lucas Niggli im Duo, wo alles frei improvisiert ist, wo wir keine Stücke haben. Das heißt aber nicht, dass man nichts wiedererkennt. Das Vokabular kann wiedererkennbar sein, aber die Geschichte ist immer eine völlig andere.

Von der kleinen zur großen Formation – das erfordert sicher jedes Mal ein komplettes Umdenken, beim Komponieren und beim Spielen.

Ja, es ist bei jedem Ensemble etwas anderes. Das Wechseln fällt mir nicht schwer. Ich mag das sogar sehr. Das hält einen wach und lebendig.

Sie haben sehr unterschiedlich mit der Stimme gearbeitet, auch über den Jazz hinaus. Zum Beispiel im Zusammenhang mit Hip Hop und bei der Vertonung von Computerspielen. War das hilfreich, um auch im Jazz Grenzen ausloten oder überschreiten zu können?

Es gibt im Jazz wahrscheinlich zwei Arten von Musiker. Die einen verstehen Jazz als Stil, beschäftigen sich intensiv mit Bebop und Swing und bringen das auch auf ein unglaubliches Niveau. Die anderen, wahrscheinlich sogar die Mehrheit der Jazzmusiker, betrachten Jazz nicht stilistisch. Ich habe neulich ein Interview von Miles Davis gehört, aus dem Jahr 1983, glaube ich. Da sagt er sinngemäß: Jazz ist für mich kein Stil. Jazz ist eine Haltung: Wie offen geht man mit Musik um, wie offen geht man überhaupt durchs Leben? Wie offen geht man auf Menschen, Kulturen, andere Klänge zu und wie sehr hat man Lust und Neugier, sich mit dem auszutauschen? Das entspricht dem, wie ich es erlebe. Insofern denke ich nie so, dass ich etwas anderes mache und das dann in den Jazz aufnehme. Ich bin Musiker und spiele tendenziell Jazz oder auch mal Neue Musik und nicht Pop, weil ich einfach keine 10.000 Nasen in Konzerte bekomme. Dafür ist die Musik zu abgefahren.

Welche Erlebnisse verbinden Sie mit dem Jazzkeller Bamberg?

Ich kann mich nicht an unser erstes Konzert im Keller erinnern, aber mein Gefühl sagt mir, dass die Energie zwischen Publikum und Band sehr positiv, sehr lebensbejahend war. Von meinem Gefühl her ist es hier sehr warm, entspannt und wohlig. Tendenziell spielt man in kleinen Clubs, wo sich die Musiker und die Zuhörer nahe sind, intimer, menschlicher. Man ist mehr man selbst und bringt mehr von seiner Persönlichkeit, von seiner Unperfektheit als Mensch ein.

Gibt es musikalische Vorbilder für Sie, auf die Sie immer wieder zurückkommen?

Im Vocal Jazz sind für mich schon auch die traditionellen Sängerinnen und Sänger irgendwie wichtig: Billie Holiday, Ella Fitzgerald, Leon Thomas, Al Jarreau, Bobby McFerrin. Bei Neuerem und Experimentellen: David Moss, Mike Patton. Bei Musikern: Miles Davis finde ich einfach eindrücklich, wie er denkt, was er macht. Duke Ellington ist eine wichtige Figur für mich. Frank Zappa, nicht musikalisch, aber von der Einstellung, wie er experimentelle Musik einem Mainstream-Publikum unterschmuggelt. Klassische Musik: Strawinsky, Bartok, Debussy, Ligeti. Gerade habe ich Chin Un-suk entdeckt, eine Südkoreanerin, die in Berlin lebt. Unglaublich geil, was die macht! Aber auch Hip Hop: Kendrick Lamar liebe ich im Moment, läuft rauf unter runter. Und Electronic höre ich: Flying Lotus, in der Ecke. Pop: Prince oder D’Angelo. Viel Jazz aus der Schweizer Szene auch. Ich höre sehr gerne breit.